Seit über sechs Jahren bin ich regelmäßig als Minister für mein Projekt „Meine Arbeit, deine Arbeit“ unterwegs. Arbeite am Fließband bei VW oder BMW mit, helfe an Pflegebetten, räume Koffer aus Flugzeugen, sortiere Briefe, kontrolliere in der Bahn Tickets, trage Dachziegel auf Dächer oder schleppe Mülltonnen zu Müllwagen – um ungefiltert mit den Menschen im Land reden zu können. Um zu erfahren, wo ihnen der Schuh drückt. Um für meine Arbeit als Minister Anregungen und Hinweise zu bekommen.
Es ist sechs Uhr morgens. Während draußen die Vögel in der Morgensonne zwitschern, sitze ich mit meinen heutigen Kolleginnen und Kollegen in der Frühbesprechung. Nicht im Wirtschaftsministerium in Dresden, sondern in Radebeul. Denn heute bin ich einen Tag lang im Kaufland als Praktikant beschäftigt.
Normalerweise komme ich immer unangemeldet zu meinen Arbeitseinsätzen – ohne, dass jemand am Anfang weiß, wer ich bin. Später spricht es sich eh rum, wer ich bin, aber dann ist man schon in einer persönlichen Arbeitsatmosphäre. Doch diesmal geht das schief: Ich werde als „Wirtschaftsminister Martin Dulig“ vorgestellt. So ganz gefällt mir das nicht. Nur, die meisten Kolleginnen und Kollegen haben mich ohnehin gleich erkannt – schließlich gehe ich ja selbst hier ab und an einkaufen. Ich stelle klar: „Ich bin hier nicht Minister, sondern der Martin – ich bin euer Praktikant.“ Sofort ist das Eis gebrochen. Außerdem geht es schon wenig später an die Arbeit. Denn es gibt viel zu tun. Schließlich ist Freitag – Hochbetrieb vor dem Wochenende im Einzelhandel. Und natürlich auch hier in Radebeul.
Im Kaufland Radebeul arbeiten rund 120 Kolleginnen und Kollegen. Der Frauenanteil ist überdurchschnittlich hoch. Rund 15.000 Kundinnen und Kunden pro Woche kaufen hier ein. Täglich werden dafür Waren von zwei bis drei Lastern mit je 32 Europaletten umgesetzt. Schließlich erwarten die Kunden ja täglich frische Ware. Das merke ich sofort, als ich im Gemüsebereich mit meiner Arbeit anfange: Fast alle Regale und Paletten sind leer. Alte Ware wurde abends entfernt, frisches Obst und Gemüse liegt über Nacht im Kühlbereich. Vor der Öffnung des Supermarktes wird die Obst- und Gemüseabteilung neu für den Tag vorbereitet. Die Waren aus dem Kühlhaus kommen in die Auslagen. Salate, Bananen und Kartoffeln räumen wir von den Paletten in die Regale. Bei den großen Kartoffelsäcken wird das ganz schnell schweißtreibend.
Dann strömen die Kunden herein. Als am Vormittag der große Parkplatz vor dem Kaufland voller wird, wechsle ich zur Fischtheke. Hier wird täglich frischer Fisch auf einem Eisbett präsentiert und verkauft. Von Fischfilets über Fischsalate und Räucherfisch bis hin zu Forellen ist alles dabei. Naschen darf ich nicht. Aber dazu käme ich auch nicht – denn es herrscht immer Betrieb: Heute gibt es Rotbarschfilet im Sonderangebot – die Nachfrage ist groß. Also lege ich Filet für Filet auf die Waage, um sie schließlich zu verpacken. Der Kassenzettel kommt drauf, und das Päckchen Fisch wandert über die Theke zum Kunden. Ab und zu werde ich kurz erkannt: „Hey Martin, was machst du hier?“ „Haste heute ‘nen Arbeitseinsatz in Radebeul?“ „Coole Sache!“ Hin und wieder werde ich in einen kurzen Plausch verwickelt. Für meine Kollegin an der Fischtheke ist das völlig in Ordnung – ich bin ja Praktikant: „Du kannst gleich hier anfangen, Martin! Gute Leute können wir immer gebrauchen.“ Natürlich freue ich mich über das Kompliment.
Auch der Einzelhandel ist vom Fachkräftemangel betroffen. Laut Marktleitung wird es immer schwieriger, neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden. Für Studentenjobs ist das Kaufland in Radebeul wohl zu abgelegen, obwohl man mit der S-Bahn von Dresden aus in gut 15 Minuten dort wäre. Zudem: Klassische Aushilfsjobs gibt es hier immer weniger. Es gibt einen gewachsenen Stamm von Festangestellten, die hier gute Arbeit finden und nach Tarif bezahlt werden. Als ich den Stundenlohn höre, denke ich mir, dass das Image vom vergleichsweise schlecht entlohnten Arbeitsplatz im Einzelhandel zumindest hier nicht zutrifft.
Der Marktleiter unterhält sich eine Weile mit mir. Wir reden über Vorschriften und Probleme bei der Einstellung von ukrainischen Mitarbeitern. Noch immer dauert es viel zu lange, bis sie in Arbeit kommen, auch wenn sie selber es wollen. Mir ist das Problem bekannt, wir drängen derzeit auf eine schnelle Lösung auf Bundesebene. Denn als Landesminister kann ich leider nichts gegen Bundesvorschriften tun, die im Einzelfall sicherlich sinnvoll, aber für die große Zahl der Geflüchteten, die endlich in Lohn und Brot kommen wollen, eher lähmend sind.
Nach einer kurzen Mittagspause gehe ich noch in die Getränkeabteilung. Räume leere Kästen weg, fülle Bierkästen, Limonaden und Säfte nach. Dann geht’s zum Leergut. Kisten stapeln, Gläser wegräumen.
Als ich am Nachmittag meine Schicht beende, bin ich froh, dass ich diese Erfahrung hier in Radebeul machen durfte. Die Kolleginnen und Kollegen waren alle sehr offen und herzlich. Wir haben viele gute, ehrliche und vertrauliche Gespräche geführt, die ich hier natürlich nicht wiedergeben möchte. Für mich ist es beeindruckend, was alles in so einem Supermarkt an Arbeit anfällt, die man als Kunde gar nicht erahnt. Und mir fällt einmal mehr auf, wie unsichtbar die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für viele Kunden sind, weil diese so auf ihren Einkauf konzentriert sind, am Handy herumtippen oder manchmal auch bewusst vorbeischauen. Dabei freut sich wirklich jeder über ein nettes Wort oder ein kleines Dankeschön.
Meinen Respekt haben die Kolleginnen und Kollegen im Radebeuler Kaufland sicher!